Das Leibniz Informationszentrum Wirtschaft (früher: Deutsche Zentralbibliothek Wirtschaftswissenschaften ZBW) veröffentlichte heute eine Pressemitteilung über eine Befragung deutscher Wirtschaftswissenschaftler zu deren Haltung zum Elsevierboykott. Der poetisch-pessimistische Titel der Pressemitteilung lautet „Elsevier-Boykott: Akademischer Frühling in Deutschland eher verregnet„. Es ist mehr als gut, dass die ZBW ihre Klientel zu deren Position bezüglich des Elsevierboykotts befragt und auch für Außenstehende interessant. Ich vermutete ja schon zur Zeit der Diskussion des Boykotts in der Mailingliste Inetbib, dass Verlage die Anfeindungen der Bibliotheken gegen ihre Geschäftsmodelle zwar recht kalt lassen – dass sie aber Respekt vor Kritik oder, sagen wir mal pauschal, sozialer Formierung seitens der Wissenschaftler haben. Dies bestätigte mir kürzlich übrigens ein Vertreter der Verlagslobby. Aber zurück zum Thema: Was zählt, ist meiner Auffassung nach die Meinung der Wissenschaftler und diese wurde von der ZBW glücklicherweise erhoben. So niederschmetternd, wie im Titel der ZBW-PM angerissen, erscheinen mir die Ergebnisse nicht: 7,5% der antwortenden Wirtschaftswissenschaftler (igs. 813) haben den Boykottaufruf unterzeichnet, ca. 39% entschieden sich bewusst (sprich: informiert) gegen eine Teilnahme am Boykott, ca. 8 Prozent waren weder interessiert, noch informiert – und für knapp 46% war der Boykottaufruf bis zum Start der Befragung am zweiten Mai unbekannt. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint die ZBW-Initiative mehr als begrüßenswert: Bei einem derart hohen Grad an Uninformiertheit kann man getrost von einer aktivierenden Befragung sprechen.nnAktivierende Befragungen sind eine Methode aus der Sozialarbeit/-pädagogik oder Gemeinwesensarbeit, die, Zitat von Christof Stoik aus Sozialraum, Personen darin „unterstützen, sich für die eigenen Interessen zu organisieren, einzusetzen und sich zu solidarisieren.“ Ohne jetzt in Sozialjargon verfallen zu wollen: Diese Funktion der Befragung ist wichtig, sei sie beabsichtigt oder nicht. Und um Organisation und gewissermaßen Solidarisierung ging es auch beim Boykottaufruf: Was stört es, wenn ein Wissenschaftler Elsevier durch seine Arbeit nicht mehr fördern will? Wenn sich viele öffentlich zu diesem Schritt bekennen, ist jeder einzelne eher davon überzeugt, etwas bewirken zu können und es fällt jedem weiteren zögernden Wissenschaftler leichter sich zu solidarisieren. So etwas macht eine soziale Bewegung aus. Sicher vertrauen Wissenschaftler Mechanismen, Akteuren und Institutionen, denen sie das für ihren Karriereweg notwendige wissenschaftliche Kapital verdanken und dazu können auch Elsevier und dessen Journale zählen. Daraus zu schließen Wissenschaftler seien nicht bereit, anderen Akteuren und Institutionen ihr Vertrauen zu schenken, ist aber falsch – besonders, wenn diese ihr berufliches Vorankommen zu befördern versprechen können. Wissenschaftler sind meiner Meinung nach diesbezüglich promisk. Und so schlecht sind die Zahlen der ZBW-Erhebung nicht: Bei fast 50% antwortenden Wissenschaftlern, die den Boykottaufruf nicht kannten, stehen die Chancen nicht so schlecht, dass sich auch unter ihnen 7,5% Unterzeichner finden, womit man dann bei (zugegebenermaßen hypothetischen) 15% liegen könnte. Die Wirtschaftswissenschaften sind, das soll die Arbeit der ZBW nicht schmälern, vielleicht kein Musterbeispiel eines unter Elseviers Politik leidenden Faches. In dieser Disziplin existiert eine ausgeprägte Preprint-Tradition und es bestehen, soviel ich weiß, qualitativ hochwertige graue Reihen, die sehr häufig Open Access zirkulieren, unter anderem über das Server-Netzwerk Research Papers in Economics RePEC. Es scheint es diesem Fach damit auch zu gelingen, Elseviers dubiose Open Access Policy zu unterlaufen, die das Ablegen von Dokumenten in disziplinären Open Access Repositories verhindern will.nnAuch wenn ich nicht so naiv bin, fest davon auszugehen Elsevier würde seine Praktiken kurzfristig umwälzend ändern, bin ich doch zuversichtlich was die weitere Entwicklung angeht. Und auch wenn der Zusatznutzen jedes weiteren Boykott-Unterzeichners irgendwann stark sinken wird, entwickelt sich die Initiative fort und entfaltet Wirkungen mit Symbolkraft und Personifizierungen – wovon der Medienwert aller Ereignisse bestimmt wird und schlechte Presse fürchtet Elsevier ganz sicher: Laut Handelsblatt hatte die Berichterstattung über den Boykottaufruf sinkende Kurse der Elsevieraktie zur Folge. Zu diesen symbolischen Aktivitäten zählt der heute im Guardian mit den Worten „I can no longer work for a system that puts profit over access to research“ bekanntgegebene Rücktritt des Mitherausgebers des Elsevier Journals Genomics Winston Hide. Auch eine französische Mathematikerin erzählte mir kürzlich sie und ihre Kollegen aus dem Herausgeberstab eines Elsevier-Journals ließen bis Herbst alle Tätigkeiten für das Journal ruhen, bis dahin erwarte man von Elsevier Pläne einer wissenschaftsfreundlicheren Geschäftspolitik. Lege der Verlag diese nicht vor, sei ein Niederlegen der Tätigkeit geplant. Auf meine Frage, ob sie sich im Streik befinde, antwortete sie mir: „Ich kann nicht im Streik sein, dazu müsste Elsevier mich bezahlen“.nn
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