Retractions und Fehlerpersistenz in der Wissenschaft

Ein im Journal of the Medical Library Association (JMLA) erschienener Artikel von Philip Davis (Referenz s. unten) untersucht, ob und wo in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienene, dann aber zurückgezogene Artikel trotz Retraction (also offizieller Tilgung aus der Wissenschaftskommunikation) durch den Verlag noch verfügbar sind. Gründe für das Zurückziehen bereits publizierter Artikel gibt es viele: Nachgewiesener Plagiarismus, Datenfälschungen, methodische Fehler sind nur wenige Beispiele. Verlage tun sich schwer damit, bereits publizierte Artikel zurückzuziehen, zieht doch jede Retraction die Qualitätskontrolle der Verlage in Frage. Ringt man sich verlagsseitig zu einer Retraction durch, wird das Zurückziehen daher oft eher heimlich, still und leise durchgeführt, um den eigenen Ruf nicht zu schädigen. Diese Strategie führt aber leider auch dazu, dass zurückgezogene Artikel weiterhin Teil des wissenschaftlichen Diskurses sind und diesen prägen – schließlich wurden sie bereits rezipiert, ausgedruckt oder finden sich in privaten Volltextsammlungen oder Literaturverwaltungen. Davis ging diesem Phänomen der Persistenz zurückgezogener wissenschaftlicher Publikationen nun nach und fand heraus, dass von 1.779 in MEDLINE als zurückgezogen markierten Artikeln 289 (in 321 Kopien) auf Internetseiten (die keine Verlagswebsites waren) gefunden wurden. Davon handelte es sich in 304 Fällen um die Verlagsversion. 138 der Dateien (43%) fanden sich in PubMed Central, 94 (29%) auf Websites von Bildungseinrichtungen, 24 (7%) auf kommerziellen Internetseiten, 16 (5%) auf Advocacy-Websites und 10 (3%) in institutionellen Open Access Repositories. Nur 15 in der Dateien (5%) fand sich ein Hinweis, dass ihr Inhalt vom Verlag zurückgezogen wurde. Im Online Literaturverwaltungssystem Mendeley fanden sich Referenzen auf 1.340 der zurückgezogenen Artikel (75% der Gesamtzahl). Leider überprüfte der Autor nicht, ob (und ggf. in welchem Umfang) zurückgezogene Artikel noch auf offiziellen Verlagsseiten oder in Angeboten von Publikationsaggregatoren kursieren.nnDavis zieht aus seiner Untersuchung den Schluss der dezentrale Zugang zu wissenschaftlichen Informationen gefährde deren Vertrauenswürdigkeit. Als Lösung schwebt ihm ein automatisierter Dienst vor, der Leser über Retractions von Artikeln informiert. Datenbanken wie das Web of Science taugen wohl nicht als Lösung, denn sie weisen nicht oder schleppend nach, wenn ein Artikel zurückgezogen wurde. Darüber berichtet unter anderem Ralph Neumann im Laborjournal mit dem Beitrag Schlecht gepflegt und dann noch frech.nnEinen von Davis vorgeschlagenen Updatedienst, der jeden Nutzer, der einen zurückzogenen Artikel als Datei auf seinem PC oder als Referenz in seiner Literaturverwaltung führt, erscheint mir technisch kaum machbar. Meine Hoffnung ruhen eher auf Community-Lösungen, wie sie etwa von den Machern des Blogs Retraction Watch betrieben werden. Mehr dazu in meinem Telepolis-Artikel über Retraction Watch.